Gleich nachdem die Gruppe sich in einem einfachen Hotel im Hafenviertel einquartiert hatte, versuchte Johann, an der Rezeption, etwas über Ander Umber y Cochera, den Priester und Bruder des Garnisonskommandanten, herauszufinden. Zwar konnte Johann kein Spanisch, doch mit dem Italienisch, das er für sein Studium in Rom gelernt hatte, kam er weit. Der freundliche Rezeptionist erklärte ihm, dass Ander Umber Kirchenrektor der Garnisonskirche Santiago de Cartagena sei.
Zurück im Zimmer, das er aufgrund der fingierten Pässe mit seiner ‚Ehefrau‘ Aleksandra teilen musste, weil das Hotel es abgelehnt hatte, eine Frau mit einem Mann im selben Zimmer schlafen zu lassen, mit dem sie nicht verheiratet wäre, berichtete er ihr, Leonid und Thomas: „Ich werde heute nachmittags zu der Kirche gehen und mir die Gottesdienstzeiten ansehen. Morgen werde ich mich bei Don Ander vorstellen. Ich hoffe, bei ihm mit meinem Italienisch so weit zu kommen, dass das Gespräch in die richtige Richtung gelenkt werden kann. Wichtig ist nur, dass ich heute noch irgendwo angemessene Kleidung herbekomme. Denn wenn ich mich ihm als österreichischer Priester vorstellen möchte, dann sollte ich zumindest wie ein Priester gekleidet sein; und nicht in diesem selbstgeschneiderten Hemd!“ Er zwinkerte Leonid zu: „Obwohl du den Kragen gut hinbekommen hast.“
Aleksandra ergriff als erste das Wort: „Auch dieses Hemd steht dir gut, aber natürlich musst du in einem Land wie diesem auf deine traditionelle Kleidung zurückgreifen. Trotzdem werden Leonid und ich versuchen, etwas über Gewerkschaften oder kommunistische Gruppen hier herauszufinden. Möglicherweise kann uns auch deren Hilfe nützlich sein.“
Johann dachte daran zurück, dass die erste Lüge leicht gewesen war, doch jetzt bedingte sie eine Verstellung nach der anderen, um aufrecht zu bleiben. Je mehr er tat, desto unmöglicher wurde der Ausweg aus der Situation.
Als hätte sie sein schlechtes Gewissen von seinem Gesicht abgelesen, sagte Aleksandra: „Ich kann dir nicht sagen, was es für mich bedeutet, dass du deinen Amtskollegen belügst, um meinen Bruder zu retten. Ich bin es gewohnt, im Dienst des Staates auch geheime Operationen durchzuführen; das bedeutet auch, dass ich manchmal die Menschen, die mir am nächsten stehen, über meine wahren Motive und Handlungen im Unklaren lassen muss, wie du es bei meiner Freundin Olga gesehen hast. Für dich hingegen ist diese Form zu arbeiten völlig ungewohnt. Und ich verstehe, dass es dir schwerfällt.“
Johann errötete leicht: „Du hast dein Leben für mich riskiert, obwohl ich nicht dein Bruder bin; das werde ich nicht vergessen. Und wenn ich etwas tun kann, um ein Menschenleben zu retten, auch wenn es das eines Kommunisten ist, werde ich es tun. Und wenn in diesem Fall dadurch auch meine Dankbarkeit dir gegenüber ausgedrückt wird, dann freut mich das. Unsere gemeinsame Zeit in Moskau hat mir die Augen für Dinge geöffnet, die ich bisher sehr verzerrt oder gar nicht wahrgenommen hatte.“ Er dachte auch an die düsteren Überlegungen zu den zwei neuen Nuklearkraftwerken in Tschechien und Ungarn, doch wollte er Aleksandra jetzt nicht hier damit konfrontieren, solange ihr Bruder noch in Gefahr war.
Während Leonid und Thomas seine Worte auf den Kommunismus und die realen Verhältnisse in der Sowjetunion bezogen, meinte Johann damit noch mehr. Und kaum hatte er die Worte ausgesprochen, hoffte er schon, dass auch Aleksandra nur an die wissenschaftlichen Informationen dachte. Aleksandra schwieg und nickte.
Auf dem Weg zur Kirche fiel Johanns Blick auf einen Schneider, in dessen Auslage er neben verschiedenen Anzügen in Weiß, Grün und Dunkelblau auch einen schwarzen Talar hängen sah. Mit einer gewissen Erleichterung betrat er die Schneiderei. Da er einen weißen Leinenanzug und das von Leonid zum Kollarhemd umgeschneiderte weiße Hemd trug, fiel es ihm leichter, dem Schneider verständlich zu machen, dass er Priester aus Österreich sei, dessen Gepäck noch nicht eingetroffen war. Er würde aber dringend einen Talar benötigen.
Der Schneider holte, nachdem er Johann von der Seite grob gemustert hatte, vier verschiedene Talare aus dem Lager. Entweder glaubte er Johanns Geschichte, oder er wollte einfach nur ein gutes Geschäft machen. Johann wählte zwei der Priestergewänder aus einfachem Stoff, einen für sich selbst und einen für Leonid. Mit einer gewissen Verärgerung hängte der Verkäufer die seidenen Talare wieder an einen Haken. Das Geschäft war nicht so gut verlaufen, wie erhofft. Doch dass Johann in Pfund bezahlte, ließ das Gesicht des Schneiders wieder aufstrahlen. Soviel Johann das schnell gesprochene Spanisch verstand, hielt der Schneider nichts von den kolumbianischen Pesos. Und Johann war dankbar über das Geld, dass ihnen der sowjetische Hauptmann in Sansibar mitgegeben hatte.
Johann zog den Talar gleich an und betrachtete sich im großen Spiegel in der hinteren Ecke des kleinen Verkaufsladens. Der Anblick, der ihm durch so viele Jahre vertraut war, wurde ihm plötzlich zur Beklemmung: War er es noch wert, als Priester hier zu stehen? Er hatte in den letzten Tagen Dinge getan, von denen er nicht zu träumen gewagt hätte. Er hatte Freunde und Feinde belogen, sich als thüringischer Kommunist und als britischer Tourist ausgegeben; und – das wog am schwersten – er war sich immer unklarer darüber, was genau Aleksandra ihm bedeutete.
Doch gerade diese Unklarheit war es, die ihn wieder zu sich kommen ließ: Wenn du mehr für sie empfindest, als es einer Kollegin und deiner Lebensretterin zusteht, sagte er sich, so ist es um so angemessener, dass du zur Buße versuchst, ihr zu helfen. Und zwar in dem Wissen, dass auch diese Tat dir nicht ermöglichen wird, ihr näher zu kommen.
Johann wandte sich von seinem Spiegelbild ab, grüßte den freundlich zurücklächelnden Schneider und wollte schon das Geschäft verlassen. Da rannte ihm der Verkäufer beinahe nach, hielt ihn kurz fest und sagte: „Aber ihnen fehlt doch noch ein Hut! Zufällig habe ich einen, der ihnen hervorragend passen wird. Nicht nur, weil ein Priester immer einen passenden Hut braucht, sondern auch weil ihr Europäer unsere starke Sonne nicht gewohnt seid.“ Johann fügte in Gedanken hinzu: „Und weil ich dann doch noch etwas harte Währung dazuverdienen kann.“ Aber der Schneider hatte natürlich recht. Johann bezahlte und gab noch etwas Trinkgeld für die gute Betreuung. Dann verließ er das Geschäft und setzte den Hut auf. Ein letzter Blick in das spiegelnde Schaufenster ließ ihn plötzlich wieder sicherer werden: Ja, das bin ich. Ich bin zum Priester ausgebildet und geweiht. Und abgesehen davon, dass ich Priester sein will, ist es auch mein offizieller Auftrag. Er spürte, wie eine Welle der Zuversicht und der Stärke ihn durchfloss.
Die Garnisonskirche, ein Bau im klassischen Kolonialbarock war im Inneren Dunkel vom Ruß unzähliger Kerzen, die hier entzündet worden waren. Hatten Mütter, Frauen, Kinder von Soldaten hier gebetet, dass ihre Lieben heil zurückkehren? Hatten die Soldaten hier Kerzen dafür entzündet, dass ihre Familien noch da wären, wenn sie zurückkämen? Auf jeden Fall zeigte der Innenraum, dass diese Kirche eifrig genützt wurde. Eine aus Holz geschnitzte Figur des heiligen Jakobus mit Pilgerhut, Muschel und Wanderstab zierte das Altarretabel.
Johann bemühte sich, aus den Aushängen am Eingang der Kirche die Zeit für die Messe des nächsten Tages herauszufinden, als ihm jemand auf die Schulter klopfte und ihn in viel zu schnellem Spanisch ansprach. Johann drehte sich herum und blickte einem blutjungen Priester in weißem Talar entgegen, der ihn entfernt an seinen Studienkollegen James erinnerte. Das relative kurze blonde Haar stand unfrisiert in alle Richtungen. Schweiß stand auf der Stirn des unbekannten Priesters. Johann begann auf Italienisch: „Ich verstehe leider nur wenig Spanisch. Mein Name ist Johann Erath. Ich bin Priester aus Österreich und mache Urlaub in Cartagena.“
Der andere grinste: „Und du hast in Rom studiert? Ich bin Ander Umber y Cochera, einfach Ander. Ich komme grade vom Fußballspielen mit unseren Rekruten.“ Johann freute sich, dass sein Gegenüber auch auf Italienisch gewechselt hatte. Das würde die Kommunikation wesentlich vereinfachen. Johann fragte: „Woher kannst du Italienisch?“ Ander antwortete: „Ich habe auch in Rom studiert. Es hat mich zwar nicht sonderlich interessiert, aber meine Familie hat großen Wert darauf gelegt. Hast du etwas Zeit, trinken wir doch eine selbstgemachte Limonade bei mir im Garten!“
Das Gespräch mit Don Ander wurde in einem von großblättrigen Palmen überschatteten Garten weitergeführt, in dessen Mitte ein Springbrunnen plätscherte. Auf einem gusseisernen Gartentisch baute Pedro zwei Limonadengläser, einen großen Krug mit Limonade und Eiswürfeln und einen Teller mit trocken aussehenden Keksen auf. „Ich habe in Rom Kirchengeschichte studiert und meine Abschlussarbeit über die integrative Wirkung der katholischen Kirche bei der Vereinigung der lateinamerikanischen Staaten geschrieben.“
Damit war das Eis gebrochen. Mit einem Schlag fühlte sich Johann in jene heile Welt zurückversetzt, die er vor vier Monaten verlassen hatte. Ander und er unterhielten sich zuerst über verschiedene Professoren und deren Vortragsstil, dann über das Essen und die Eigenheiten der verschiedenen nationalen Kollegien in Rom.
Johann konnte sich gar nicht mehr bremsen, er redete und redete, fragte, lachte. Die Stunden vergingen wie im Flug. Es war, als hätten all die verrückten Dinge der letzten Tage nie stattgefunden. Der Schlag der Kirchenuhr wies darauf hin, dass es inzwischen sechs Uhr Abends geworden war. „Warum beten wir die Vesper nicht gemeinsam?“, fragte Ander.
Nachdem sie in der Kirche die Texte aus Anders Gebetbuch gesprochen hatten, war Johann wie in Trance. Es war so lange her, dass er zusammen mit anderen gebetet hatte. Seine Welt war für diese kurze Zeit wieder völlig in Ordnung. Um so härter konfrontierte ihn die nächste Frage mit der Realität, der er durch die Studentenerinnerungen und das gemeinsame Gebet entflohen war: „Wo bist du eigentlich untergebracht? Wenn Du willst, kannst Du natürlich auch in meinem Schloss von Pfarrhof wohnen. Ich arbeite ja hier als Militärpfarrer allein, mit Platz für zehn!“
Johann stotterte kurz. Es wäre leichter gewesen, wenn Don Ander irgendein alter, fremder Priester gewesen wäre. Aber jemand, den Johann nun fast wie einen Studienkollegen empfand, mit dem er Jahre seines Lebens gemeinsam verbracht hatte, anzulügen, würde unendlich schwerer sein.
Ein Gedanke an Aleksandra gab ihm Mut und Motivation: „Ich wohne in einem Hotel am Hafen, gemeinsam mit einem jungen Theologiestudenten aus Galizien, den ich auf diesen Urlaub mitgenommen habe. Außerdem begleitet uns ein befreundetes Ehepaar. Zuhause bin ich auch Militärpfarrer, in Lemberg.“ Johann wunderte sich, wie leicht ihm diese Geschichte von den Lippen gegangen war. Es sprach sich nicht anders aus als die Episoden aus der Studentenzeit, die er vorhin im Garten erzählt hatte.
Ander antwortete begeistert: „Du hast einen Studenten aus Galizien mit? Kann der etwa auch Russisch?“ Johann bejahte die Frage. Doch nun zuckte Ander kurz zurück: „Nein, ich kann dich das nicht bitten. Ihr seid im Urlaub hier.“
Johann hatte die Spur aufgenommen. Die Hoffnung keimte auf, dass Ander vielleicht von sich aus auf die Idee kam, ihn mit Aleksandras Bruder zusammenzubringen. „Wenn es um das Wohl der Seelen geht, Ander, dann gibt es keinen Urlaub. Was immer wir für dich tun können, werden wir machen.“
Ander zögerte immer noch, schließlich fing er an: „Wenn du auch Militärseelsorger bist, weißt du, dass es manchmal Kompromisse geben muss zwischen der Einhaltung der Lehre der Kirche und der Sorge für das reale Wohl der Menschen. Und wie in Österreich ist auch in Kolumbien die Kirche sehr durch den Staat unterstützt. Umgekehrt versuchen wir hier, den Staat mit unseren Kräften zu unterstützen. Zurzeit sind in unserer Kaserne einige Gäste aus der Sowjetunion. Allerdings ist es sehr schwer, mit ihnen zu kommunizieren, weil die verfluchten Kommunisten ihre Leute natürlich kein Spanisch lernen lassen. Wenn du aber jemanden bei der Hand hättest, der vielleicht ein, zwei Stunden Zeit hat, als Dolmetscher zu fungieren, wäre uns sehr geholfen. Denn der offiziell angeforderte Übersetzer wird frühestens in einer Woche hier sein. Die Arrogantisten in der Militärakademie in Baranquilla haben natürlich alle Übersetzer und wir keinen. Und bei den Regenfällen jetzt, sind sie sich zu gut, über die miesen Landstraßen zu fahren.“
Johann schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Es war fast zu einfach. Doch Ander fügte hinzu: „Eine Bedingung wäre allerdings daran geknüpft. Aber unter Mitbrüdern ist das ja selbstverständlich: Nichts von dem, was bei diesen Gesprächen gesagt wird, darf bekannt werden; es ist wie das Beichtgeheimnis zu behandeln.“
Johann nickte verständnisvoll, weil er so etwas schon erwartet hatte: „Aber Ander, das ist doch selbstverständlich. Ich kenne selber viele Dinge durch das Leben in der Kaserne, die für Zivilisten völlig unnützes und belastendes Wissen wären. Wann soll ich morgen mit meinem Studenten Leonid hier sein?“
Pedro überlegte kurz: „Kommt doch zur Messe um sieben Uhr, danach frühstücken wir und dann gehen wir in die Kaserne!“
Aleksandra blickte auf das feine Papier des Umschlags, in dem sich eine ominöse Karte befunden hatte. Auf ihr stand in gestochen scharfer Schrift: „Auf einen schönen Berg wächst blonder Weizen konstant. Ein Freund erwartet sie in der Abenddämmerung unter einem Feigenbaum im Park Simon Bolivar.“ Sie hatte den Text jetzt schon unzählige Male gelesen, um herauszufinden, ob das eine Hilfe oder eine Falle sein sollte. Auf jeden Fall wusste jemand, der gerne Spielchen spielte oder sehr vorsichtig war, nicht nur, dass sie in Cartagena war, sondern auch, wo sie wohnte. Deshalb musste der unbekannte Fremde auch wissen, dass sie nicht allein war. Da der Text in russischer Sprache abgefasst war, kannte der Absender Aleksandras wahre Identität.
Sie überlegte, dann wandte sie sich zu Leonid um, der auf dem Bett lag und mehr lustlos in einem Buch blätterte: „Leonid, sieh dir diese Nachricht an. Erkennst du darin irgendeine unserer Floskeln? Von wem könnte der Text stammen?“ Aleksandra vertraute Leonid mehr denn je; und so sehr sie seine für sie unklare Beziehung zu ihrem Bruder verwirrte, so sehr sah sie darin die letzte Begründung für Leonids absolute Verlässlichkeit.
Leonid stand sofort auf und trat hinter sie. Er beugte sich über ihre linke Schulter und las den Text. Beim ersten Mal schnell, dann dreimal Wort für Wort. Im Geiste ging er alle Verschlüsselungen durch, die er im Rahmen seiner Übersetzertätigkeit kennengelernt hatte: „Der Grammatikfehler der ersten Zeile könnte daher rühren, dass ein Nicht-Russe den Text geschrieben hat; er könnte aber auch einfach eine Finte sein. Alle anderen Ausdrücke sind mir völlig fremd. Ich erkenne auch kein Muster, außer dass viele landwirtschaftliche Ausdrücke verwendet werden.“
Aleksandra nickte; und wurde sich erst jetzt bewusst, dass sie Leonids Atem auf ihrem Hals spüren konnte. Fast zu schnell stand sie auf, so dass Leonid beinahe zurück kippte. „Könnte ein kolumbianischer Kommunist über unsere Anwesenheit Bescheid wissen? Aber wie hätte er davon erfahren?“
Leonid nahm den Zettel nun vom Tisch und befühlte ihn. „Der Genosse verwendet dann aber ziemlich exklusives Papier.“
Plötzlich durchzuckte Aleksandra ein Verdacht: „Es war Lamprin! Er hat die hiesige KGB-Stelle informiert. Ich habe ihm vertraut, aber das ist ein Fehler gewesen. Wenn ich zu dem Treffen gehe, erwartet mich dort kein Freund, sondern eine Gruppe von Agenten. Lamprin hat uns zu schnell und zu perfekt geholfen, Sansibar zu verlassen.“
Leonid schüttelte den Kopf: „Wenn er uns hätte gefangennehmen sollen oder müssen, hätte er dazu in Sansibar oft Gelegenheit gehabt. In Kolumbien sind die Partei und auch der KGB wesentlich eingeschränkter in ihren Handlungsmöglichkeiten. Wir hätten in Addis Abeba oder Monrovia untertauchen können, oder auch irgendwo auf der Fahrt oder der Schiffsreise von Bogota nach Cartagena. Uns hier auszuliefern, ist völlig unrealistisch.“
„Im Gegenteil“, erwiderte Aleksandra, „in einem Land mit Bürgerkrieg ist es viel leichter, jemand Missliebigen verschwinden zu lassen. Noch dazu, wo man diesen Mord dann dem Klassenfeind in die Schuhe schieben kann. Möglicherweise wartet in diesem Garten auch eine Gruppe ‚Straßenräuber‘, die eine reiche Touristin überfallen. Die kryptischen Sätze haben dann gar keinen Inhalt, sie sollen uns bzw. mich nur neugierig machen.“
Leonid legte das Papier wieder auf den Tisch. Aus dem großen Krug goss er ein Glas Wasser ein und gab es Aleksandra, die es unschlüssig festhielt. „Wenn es der KGB wäre, dann wärst du nicht das einzige Ziel. Sie würden sich nicht die Mühe machen, uns einzeln auszuschalten. Ich schlage vor, dass ich an deiner Stelle hingehe. Du bist die Leiterin dieser Aktion, dein Leben muss auf alle Fälle geschützt bleiben.“
Aleksandra winkte ab: „Das ist in keiner Hinsicht schlüssig. Wir brauchen dich als Dolmetscher für die Befreiung Wladimirs. Mein Englisch reicht für eine ausführliche Unterhaltung mit Johann nicht aus; und sein Russisch ist über ein paar Grußformeln noch nicht hinaus. Ich werde gehen. Thomas wird mich aus der Distanz begleiten. Er ist sicher die Person unserer Gruppe, die am wenigsten genau beschrieben ist. Er wird beobachten, wer mich dort trifft und was mit mir geschieht. In jedem Fall wird er euch Bericht erstatten. Ihr müsst aber das Hotel verlassen und euch an einem anderen Ort mit ihm treffen.“
Es klopfte. Leonid ging zur Tür und öffnete sie. Johann, nun wieder im Anzug, und Thomas traten ein. Aleksandra wandte sich sogleich an Johann, wobei Leonid übersetzte: „Jemand weiß, dass wir hier sind.“ Sie hob den Zettel auf und reichte ihn Johann, der ihn verständnislos ansah.
„Jemand von euren Leuten? Die Sache mit der Kaserne läuft hervorragend. Ich habe sofort freundschaftlichen Kontakt zum Bruder des Kommandanten gefunden. Er ist zugleich der zuständige Militärseelsorger. Er hat sogar von sich aus vorgeschlagen, dass ich morgen mit den Gefangenen rede, wozu Leonid als Dolmetscher mitkommt; als galizischer Priesterseminarist.“
„Das ist wohl die Rache für den Thüringischen Offizier. Doch diese Sache hier ist noch dringender. Jemand hat uns diese Nachricht zukommen lassen, und Aleksandra zu einem Treffpunkt eingeladen. Wir wissen nicht, was der Text bedeutet, es sind keine Standardverschlüsselungen.“ Leonid übersetzt unmittelbar darauf den Text und Johann horchte auf.
„Gibt es ein türkisches Konsulat in Cartagena?“, fragte er. Da niemand antwortete, sprach er weiter: „Vor einiger Zeit waren wir in Moskau in der Oper, jener Abend, an dem du dieses phantastische dunkelrote Kleid getragen hast.“
Aleksandra und Leonid runzelten die Stirn über diese allzu schwärmerische Nebenbemerkung. „Wir haben Mozarts Entführung aus dem Serail gesehen, erinnert ihr euch?“
Aleksandra nickte: „Diese seichte Posse über die zwei Frauen im Harem Bassa Selims?“
Johann schien über die despektierliche Beschreibung verärgert: „Diese erste deutsche Oper, die 1782 in Wien uraufgeführt wurde! Konstanze und ihre Zofe Blonde werden von Belmonte – übersetzt Schönberg – aus der Gefangenschaft befreit. Von diesem Abend können nicht viele Personen wissen. Du, Aleksandra, Leonid, der türkische Botschafter und Oberstleutnant Bruschek. Einer der beiden letzten muss die Nachricht gesandt oder zumindest in Auftrag gegeben haben. Und wenn wir die Informationen aus Sansibar hinzurechnen, die Oberleutnant Lamprin uns aus der dortigen türkischen Botschaft geliefert hat, so ist es wahrscheinlicher, dass die Unterstützung von dort kommt.“
„Und Botschafter Yenal ist ein sehr guter Freund von General Schelepin!“, setzte Aleksandra hinzu. „Ich werde also zu diesem Treffen gehen. Trotzdem wird Thomas in einiger Entfernung das Geschehen beobachten. Sollte mir etwas zustoßen, wird er euch benachrichtigen. Trefft euch in einer Bar oder an einem anderen unauffälligen Ort in gewisser Entfernung zum Hotel.“
Im Park Simon Bolivar waren um eine zentral aufgestellte Statue des südamerikanischen Freiheitshelden verschiedenste Bäume gepflanzt. An jedem der vier Eingänge des großzügigen Areals befand sich ein Plan mit der genauen Bezeichnung der Bäume und einer kurzen Darstellung von Blüte, Rinde und Frucht des jeweiligen Baumes. Da Aleksandra kein Spanisch verstand, gab ihr das Bild einer Feige neben einem Baum den entsprechenden Hinweis. Sie orientierte sich kurz im Gelände und ging dann zielstrebig auf einen Baum in der gegenüberliegenden Ecke des Parks zu. Hinter diesem Baum saß jemand mit dem Rücken zu ihr auf einer Parkbank. Von hinten waren nur der weiße Anzug, ein dazu passender Hut und ein Gehstock mit versilbertem Griff zu sehen, den der Sitzende in Händen hielt.
Aleksandra strich noch einmal ihren dunkelgrünen, knielangen Rock glatt und ging dann in einem weiten Bogen den Spazierweg entlang auf die Bank zu. Sobald er sie erblickte, erhob sich der Wartende und lüftet zum Gruß den Hut. Aleksandra sprach ihn auf Russisch an: „Exzellenz, ich bin etwas verwundert über die Einladung zu diesem Treffen.“
Der Botschafter trat auf sie zu und antwortete ebenfalls auf Russisch: „Mein Liebe, lassen sie uns ein wenig in diesem herrlichen Park spazieren gehen.“ Sie folgte ihm auf einen Weg, der in einen dicht von Büschen mit gelben und violetten Blüten bestandenen Teil des Parks führte. „Zuerst einmal herzliche Grüße von unserem gemeinsamen Freund. Und die wichtigste Nachricht: Der Putschversuch wurde erfolgreich zurückgewiesen. Um das Ausland nicht zu beunruhigen oder wilden Spekulationen Raum zu geben, wurde die ganze Sache geheim gehalten. Alle Beteiligten in der Sowjetunion sind zum Schweigen verpflichtet worden. Präsident und Politbüromitglieder werden zu verschiedenen Zeitpunkten im nächsten halben Jahr ihre Positionen anderen überlassen. Dafür wurde ihnen sonstige Straffreiheit gewährt. Nach außen hin wird niemand etwas merken. Im Inneren hat dieser Versuch aber die Position ihres Genossen Chruschtschow massiv gestärkt. Manche meiner Berater gehen sogar davon aus, dass er selbst das Präsidentenamt übernehmen und damit Partei und Staat wieder unter einen Mann bringen wird. Das wird sicher auch Konsequenzen für unseren Freund und deshalb auch für Sie haben.“
Aleksandra konnte es nicht glauben, Botschafter Yenal hatte ohne jede Emotion diese so gefährliche und für sie existenzbedrohende Situation geschildert und abgeschlossen. Aleksandra bemerkte gar nicht, dass sie im Grübeln stehen geblieben war. „Belasten Sie sich nicht mit Dingen, die schon vorbei sind. Werfen Sie die hinter sich! Ihr Blick muss jetzt auf die Zukunft gerichtet sein.“
Aleksandra nickte und nahm wieder Schritt auf: „Ihren Worten entnehme ich, dass es dem Genossen General gut geht. Eine Rückkehr in die Heimat wird daher unverzüglich möglich sein. Und ich werde Doktor Erath mitbringen?“
Der Botschafter pflückte im Vorbeigehen eine gelbe Blüte, sog den süßlichen Duft ein und reichte sie Aleksandra: „Natürlich werden Sie über das hiesige Konsulat offiziell den Inhalt meiner Aussagen nachprüfen, aber ich kann Ihnen von unserem gemeinsamen Freund ausrichten, dass er mit Ihrer Evakuierungsaktion in höchstem Maße zufrieden war. Die Finte mit Neu-Weimar und die Flucht nach Sansibar waren genial. Allerdings war die Weiterreise nach Cartagena nicht ganz nachvollziehbar, bis wir das mit Ihrem Bruder herausfanden.“
Aleksandra roch ebenfalls an der Blüte und betrachtete sie: „Doktor Erath hatte keine Einwände gegen diesen Schritt; er hat sich sogar selbst in Gefahr gebracht, um einen Weg zu Genossen Piatnizki und den übrigen, die nicht dem Verrat des Kapitäns gefolgt sind, zu bahnen. Außerdem war in Sansibar die Gefahr zu groß, enttarnt zu werden. Da wir über den Ausgang des Putschversuchs kein Wissen hatten, bestand ja jederzeit die Möglichkeit, auch dort aufgedeckt und gefangengesetzt zu werden. Doch jetzt, da Sie hier sind, können wir ja für die gefangenen Genossen eine diplomatische Lösung finden.“
Der Botschafter lächelte: „Mein Kind, in diesem Land hat ein in Moskau akkreditierter Diplomat keine Möglichkeiten. Und selbst mein Kollege, der Botschafter in Kolumbien, könnte uns in dieser Sache nicht helfen, weil es sich bei den gefangenen Personen nicht um türkische Staatsbürger handelt. Und man sollte nicht vergessen, dass der Kapitän und einige Besatzungsmitglieder offiziell um Asyl in Kolumbien angesucht haben. Das U-Boot verwenden sie als Bezahlung für die Erfüllung dieses Plans. Die kolumbianische Regierung wird sich einen solchen Fang kaum entgehen lassen. Aber um das Boot nützen zu können, brauchen sie zumindest am Anfang die vollständige Besatzung; und einen Marineingenieur, der die Systeme kennt: Ihren Bruder.“
Aleksandra waren diese Dinge klar, doch es wunderte sie, über wie viele Details der Botschafter Bescheid wusste. General Schelepin musste seinem Kriegskameraden völlig vertrauen. Das erleichterte es auch Aleksandra, dem sympathischen Diplomaten ihre Pläne anzuvertrauen: „Doktor Erath hat sich dem hiesigen Militärseelsorger als Priester zu erkennen gegeben. Mithilfe unseres Dolmetschers, den er als galizischen Priesterseminaristen vorgestellt hat, wird er Kontakt zu Genossen Piatnizki aufnehmen. Dann werden wir versuchen, ihn, die Genossen und das U-Boot zu retten. Die übrigen, die Verräter, können von mir aus hier bleiben. Wir werden uns in keine Vergeltungsaktion einmischen, die sicher von den hiesigen Spezialisten des KGB durchgeführt werden wird.“
„Fällt Ihnen auf, dass Sie von Ihrem Bruder nur mit Ihrem gemeinsamen Nachnamen und als Genossen sprechen?“ Aleksandra schaute den Botschafter verwirrt an: „Ich gebe zu, dass ich ihm auf eine besondere Weise verbunden bin, aber persönliche Zuneigung oder Verwandtschaft dürfen nicht über die Pflichterfüllung und die Sorge für die militärischen Geheimnisse der Sowjetunion gestellt werden. Wäre er der Verräter, würde ich keinen Finger rühren, um ihn zu befreien. Und ich würde nicht zulassen, dass Johann sich seinetwegen in Gefahr bringt.“
Nun hielt der Botschafter inne. Er drehte sich zu Aleksandra um, die ebenfalls stehen blieb. Der Botschafter grinste, wandte sich wieder dem Weg zu und ging weiter. Aleksandra folgte ihm verwirrt: „Ihr eigener Bruder ist für sie ein Genosse, den es aufgrund seiner Vaterlandstreue und seiner sozialistischen Gesinnung zu retten gilt; der Ihnen anvertraute Gast, der weder Sowjetbürger ist noch Kommunist – zumindest wenn er sich nicht in den letzten beiden Wochen massiv geändert hat – der wird von Ihnen mit Vornamen und ehrlicher Sorge bedacht?“ Eine Zeit lang gingen sie schweigend nebeneinander, bis der Botschafter weitersprach: „Mir persönlich ist es egal, wenn Sie ein Paar geworden sind, aber für seine kirchliche Zukunft wäre das weniger vorteilhaft. Und wenn er zu einem Verbindungsmann zwischen Ihrem und dem katholischen System werden sollte, dann darf seine persönliche Sympathie nicht zum Hindernis werden. Und vergessen Sie nicht, dass die Breitspurbahn nicht nur für die Sowjetunion von Bedeutung ist, sonder auch für das Osmanische reich. Ich bin nicht tausende Kilometer unbequem geflogen, weil ich ein netter Onkel bin. Ich diene meinem Staat so wie Sie Ihrem.“
Aleksandra schüttelte den Kopf: „Herr Botschafter, Sie verkennen die Lage völlig: Doktor Erath und ich haben, gemeinsam mit unseren beiden Begleitern beschlossen, einander mit Vornamen anzusprechen. Es handelt sich dabei lediglich um eine praktische Vereinfachung der Kommunikation. Ich versichere Ihnen, dass nicht nur Doktor Erath in keinster Weise an mir als Frau interessiert ist; auch von meiner Seite gibt es in dieser Hinsicht nicht den geringsten Gedanken. Natürlich hat die gemeinsame Flucht und die Ungewissheit des Ausgangs eine Vertrautheit hervorgebracht, die über das Bisherige hinausging. Aber diese Vertrautheit ist eher mit der Kameradschaft von Soldaten zu vergleichen, die gemeinsam eine Mission erfüllt haben, denn mit einer romantischen Beziehung.“
Wenn der Botschafter wüsste, dachte Aleksandra, dass in der kleinen Gruppe ganz andere Formen persönlicher Zuneigung und der daraus resultierenden Probleme unter der Oberfläche der gemeinsamen Flucht schwelten, wäre er sicher amüsiert. Sie selbst dachte bei dem Vorwurf, sexuell an Johann interessiert zu sein, unwillkürlich an Oberleutnant Lamprin auf Sansibar. Wenn sie ernsthaft von jemand angezogen worden war, dann von dem Mann, von dem sie zuerst angenommen hatte, dass er ihr Henker sei. Seine freundliche, zuvorkommende Art; die Offenheit seines Blicks gemischt mit seiner Pflichterfüllung auf einem so abgelegenen und undankbaren Posten, sprachen sie noch mehr an als seine äußerliche Attraktivität.
Aber, so dachte Aleksandra, all das hat nichts mit dem Botschafter zu tun. Der lächelte väterlich: „Meine Liebe, ich bin keine moralische Instanz. Ich versuchte nur, auf mögliche Konsequenzen einer solchen Verbindung hinzuweisen. Diese Überlegungen hat übrigens auch unser gemeinsamer Freund angestellt. Er ist aber auch der Meinung, dass Sie mögliche Gefühle aus Loyalität und Pflichtbewusstsein in jedem Fall unterdrücken würden.“
Aleksandra konnte im Geist das Bild des wohlwollenden Generals vor sich sehen. Er setzte größtes Vertrauen in sie; und sie wusste, dass dieses Vertrauen angemessen war. „Diese Themen sind aber nicht von zentraler Bedeutung; zumindest nicht hier. Haben Sie Instruktionen oder nützliche Hinweise zur Befreiung der Genossen?“
Inzwischen waren sie an einer Ecke des Parks angekommen, der Weg führte nun entlang des Zauns zum nächsten Tor, das etwa zweihundert Meter vor ihnen lag. „Der Versuch Ihres Gastes ist lobenswert. Und in einem Land, in dem Kirche und Staat so eng verbunden sind wie hier, wird ihm möglicherweise sogar der Zugang zu den Gefangenen gewährt. Doch das wird zugleich das Ende seiner Möglichkeiten sein. Ich sehe keinen Weg, wie er die Gefangenen aus dem Gefängnis in der Kaserne herausbringen könnte. Möglicherweise ist es für die Soldaten eine moralische Aufrichtung, zu wissen, wie der Putsch ausgegangen ist. Eine diplomatische Aktion seitens Moskaus ist aber unwahrscheinlich, weil Ihr Land dann zugeben müsste, dass in der Karibik U-Boote stationiert sind. Und das würden weder die Konföderierten noch die Vereinigten Staaten von Amerika für besonders erfreulich halten. Und schon gar nicht Mexiko oder Kolumbien.“
Mit einem Schlag wurde Aleksandra bewusst, dass ihr Befreiungsplan wirklich nur bis zum Kontakt mit Wladimir gereicht hatte. Auch der beste Kontakt zwischen Johann und dem Priester würde daran nichts ändern. Ander Umber könnten seinen Bruder, den Kommandanten, niemals davon überzeugen, die so kostbaren ‚Gäste‘ freizulassen. Fieberhaft suchte Aleksandra nach einer Lösung.
„Wenn Sie eine Adresse brauchen, wo Sie sich und Ihre Freunde unterbringen können, steht Ihnen die Villa des hiesigen türkischen Konsuls zur Verfügung, in der auch ich untergebracht bin.“ Mit diesen Worten übergab Botschafter Yenal Aleksandra eine Visitenkarte, auf der nur eine Adresse zu lesen war. Er verneigte sich höflich, zog noch einmal den Hut und verabschiedete sich: „Ich werde unseren Freund über Ihre Gesundheit und die Ihres Begleiters informieren. Und wenn ich etwas für eine so mutige Frau wie Sie tun kann, wenden Sie sich in diesem Haus an mich.“
Nach diesen Worten wandte er sich um und ließ sie im inzwischen fast dunklen Park zurück.
Auf dem Weg zurück dachte Aleksandra über die unerwartete Wendung nach. Sowohl für sie selbst als auch für Johann, Leonid und Thomas war die Gefahr gebannt. Einer Rückkehr in die Sowjetunion stand nun nichts mehr im Weg, auch wenn man von Kolumbien nicht direkt fliegen konnte. Die Kontaktaufnahme im hiesigen Konsulat oder mit der Botschaft in Bogota würde leicht gelingen, denn für solche Fälle gab es eigene Begrüßungsfloskeln, die dem Botschaftspersonal bekannt waren. Sie würde sofort mit dem hiesigen Kontaktmann oder der Kontaktfrau des KGB in Verbindung treten können. Weitere Befehle aus Moskau würden ihre Rückkehr regeln. Ebenso das Ausstellen neuer Pässe, die Ausstattung mit Kleidung und Geld wären sichergestellt.
Und dort könnte man sicher auch die Befreiung ihres Bruders und der anderen Genossen organisieren, denn schließlich war es ja im Interesse des Staates, dass militärische Geheimnisse auf jeden Fall geschützt blieben.
Leonid besah sich im Spiegel und konnte ein Stirnrunzeln nicht verhindern: Er hatte schon zahlreiche verschiedene Kleidungsstücke getragen, seine Uniform, Anzüge, Arbeitskleidung, doch ein bodenlanges schwarzes Kleid hatte nicht dazu gehört. Johann hatte ihm einen Talar besorgt, damit er beim morgigen Treffen mit Ander Umber als galizischer Priesterseminarist durchging. Was für ein unvorteilhafter Schnitt, dachte Leonid: Wozu trainiert man seinen Körper, wenn man ihn dann mit einem solchen Sack verhüllt? Johann nickte trotzdem zustimmend: „Du wirkst schon sehr seriös, vielleicht könntest du ein bisschen weniger selbstbewusst dastehen.“
Leonid setzte eine schüchterne Miene auf und wandte sich Johann zu. Er neigte zugleich seinen Kopf ein wenig nach vorne. Johann lachte auf: „Naja, auch nicht übertreiben. Ich meinte nur, Seminaristen warten ja noch darauf, für geeignet befunden zu werden. Und da hat es sich als nützlich erwiesen, nicht zu forsch aufzutreten.“ Leonid fragte nach: „Das heißt, du verstellst dich, bis du fix angestellt bist, und danach kannst du dich benehmen, wie du willst? Ist das nicht etwas heuchlerisch?“
Johann hatte sich zwar an Leonids offene Fragen gewohnt, die leider meistens wirklich ins Schwarze trafen, dennoch traf ihn die direkte Wortwahl immer wieder: „Ich nenne das vorsichtig und lernbereit, nicht heuchlerisch. Viele meiner Kollegen waren sehr erfolgreich, weil sie im Gegensatz zu mir nicht immer alles gleich kommentiert haben, was Vorgesetzte sagten.“
Leonid wurde neugierig: „Also bist du mit deiner Institution unzufrieden, weil Schleimer bevorzugt werden?“
Johann antwortete: „Unzufriedenheit ist nicht das richtige Wort. Ich warte eher darauf, dass manche Abläufe noch verbessert werden. Es wird sicher in der Partei und den staatlichen Institutionen der Sowjetunion auch nicht immer der Qualifizierteste genommen werden, oder?“
Leonid schmunzelte: „Angriff ist die beste Verteidigung. Aber du hast recht. Ich verstehe deine Loyalität zu deiner Institution, auch wenn ich weniger Kompromisse schließen musste. Findest du es nicht schrecklich, ohne Frauen zu leben? Ich meine, du ziehst dich mit diesem schwarzen Kleid zwar an wie eine, aber schlafen darfst du nicht mit ihnen.“
Johann war über den Vergleich überrascht: „Der Talar ist ein international verständliches Zeichen von Autorität. Nicht nur Priester, auch Richter, Professoren und andere Repräsentanten übergeordneter Instanzen tragen ihn. Ich denke nicht, dass es etwas damit zu tun hat, dass man gerne als Frau verkleidet sein will. Es ist eher ein Relikt aus römisch antiker Kleidungstradition. Eure Uniformen mit ihren dekorativen Dienstgraden, Schlaufen und bunten Knöpfen sind auch nicht gerade Ausdruck besonderer Bescheidenheit. Aber es stimmt, der Verzicht auf die Ehe ist eine schwerwiegende Entscheidung.“
Leonid begann, die Knöpfe des für ihn ungewohnten Kleidungsstücks zu öffnen. „Hast du diese Entscheidung schon einmal bereut?“
Johann überlegte, was er Leonid erzählen sollte: „Ich habe viel darüber nachgedacht, was der Verzicht auf eigene Kinder bedeutet; auf jemanden, der von dir gezeugt wurde, der dich in sich trägt, und den du zu dem Menschen erziehen kannst, der du selber gerne geworden wärest. Und auch wenn dieser Verzicht gigantisch ist und mich oft quält, wenn ich andere mit ihren Kindern spielen sehe, so weiß ich doch, dass mir die Freude der Erziehung nicht ganz genommen ist. Ich bin Lehrer und kann so versuchen, anderen etwas von dem zu vermitteln, was mich bewegt und prägt. Vielleicht kann ich ihnen den einen oder anderen Schmerz ersparen; sie vor Verletzungen bewahren. So werden mir viele zu jüngeren Schwestern und Brüdern, zu Kindern im Geist.“
Leonid, der den Talar inzwischen an einem Kleiderhaken aufgehängt hatte und sich sein buntes Hemd wieder anzog, schaute Johann fragend an: „Bei jedem anderen von euch würde ich diese schöne Ansprache für reine Propaganda halten; bei dir habe ich aber den Eindruck, dass du das wirklich so meinst, wie du es sagst. Aber du hast meine Frage nicht beantwortet. Ich wollte nicht wissen, wie du zu Kindern stehst, denn ich selbst interessiere mich noch lange nicht dafür, eigene Kinder zu zeugen; dafür bin ich noch zu jung. Außerdem ist mein Beruf zur Zeit nicht gerade für stabile Beziehungen geeignet. Eine Ehe oder auch nur eine feste Freundin oder ein fester Freund, mit denen ich täglich zusammenleben müsste, würden mich wahnsinnig machen, mir die Luft zum Atmen rauben; und wahrscheinlich früher oder später auch sexuell langweilig werden. Meine Frage an dich war, ob du nicht irgendein Kribbeln, eine Begierde verspürst, wenn du eine schöne Frau oder einen attraktiven Mann siehst.“
Johann schluckte. Schließlich sagte er nach einigem Zögern: „Was ich jemals bei Frauen gesucht habe, das habe ich erst in meinem Beruf gefunden: Die zumindest nach menschlichem Ermessen tiefste Bestätigung des Gefühls, für immer geliebt zu sein. Selbst die schönste Frau, die dir hundert Liebes- und Treueschwüre zusagt, weiß nicht, was ihr geschehen wird: Wird sich ein anderer in ihr Herz schleichen; oder selbst wenn sie wirklich treu ist, wird sie für immer leben, um die Ewigkeit ihrer beschworenen Liebe zu beweisen?“ Johann ließ einen Moment der Stille verstreichen.
„Nein, sie wird altern und sterben; und selbst wenn sie mich überlebte, wüsste ich, dass sie irgendwann stirbt. Und diesen Schmerz, den Menschen, den man über alles geliebt und für den man sein Leben hingegeben hätte, sterben zu sehen oder sterblich zu wissen, diesen Schmerz könnte ich nie ertragen. Vielleicht lebe ich deshalb immer gebremst und bemüht vernünftig, um mich an nichts zu binden, was sterblich oder endlich ist.“
Leonid wollte gerade zu einer Entgegnung ansetzen, als ihm Johann das Wort abschnitt: „Aber glaube nicht, dass das so einfach funktioniert, wie es sich sagen lässt. Es gibt Tage, da glaube ich im Feuer zu verbrennen, so sehr sehnt sich jede Faser meines Körpers nach der weichen Haut einer Frau. Und wenn ich in Gedanken ihre Kleider von ihr streife, jeden Winkel ihres Körpers mit den Kuppen der Finger ertaste und küsse, dann habe ich das Gefühl zu ersticken, zu ertrinken und gleichzeitig zu fliegen wie ein Engel. Und deshalb ist es für mich doppelt schwer, mit dir darüber zu reden, weil du all das ohne Sorgen tust, was ich in diesen Augenblicken begehre; ohne Blick auf die Zeugung von Kindern oder die gegenseitige Hilfe, die Eheleute einander sein sollen. Und ich könnte schreien und mit dem Kopf gegen die Wand laufen, um mir diese Bilder aus dem Kopf zu schlagen.“
„Warum gehst du nicht zu einer Prostituierten? Sie würde – ohne eine Beziehung oder Ehe zu erwarten – jeden Winkel ihres Körpers für deine Augen, Hände, Lippen und andere Körperteile zur Verfügung stellen. Und wenn du so romantisch veranlagt bist, dass du sie küssen und liebkosen möchtest, könnte sogar sie etwas Spaß bei der Sache haben. Und selbst wenn nicht, wäre ihr das egal, weil es ja eine Profession ist, wie Krankenschwester oder Kellnerin.“, erwiderte Leonid.
Johann, der im Spiegel sah, dass sein Gesicht hochrot angelaufen war, hielt kurz inne, und bemühte sich dann, ruhig zu antworten: „So einfach sind die Dinge nicht. Prostitution ist in sich verwerflich, weil sie den eigenen Körper zur Ware macht, die verkauft wird. Das müsste gerade dir als Kommunisten ein Dorn im Auge sein, richtet sich doch euer ganzer Kampf auf die Befreiung des Menschen aus dem Besitz anderer. Noch dazu arbeiten die meisten Prostituierten auch für ihre Hintermänner, die ihnen dann das Geld wegnehmen. Würde ich zu ihr gehen, würde ich ihren Körper kaufen und zugleich ihre Ausbeutung unterstützen. Ich würde ihr also doppelt schaden. Selbst wenn es die attraktivste Frau auf der Erde wäre, könnte ich angesichts dieses Hintergrunds keine Lust auf Kontakt mit ihr entwickeln.“
Leonid ging einen Schritt auf Johann zu und schaute ihm eindringlich in die Augen: „Musst du eigentlich in jedem Atemzug darüber nachdenken, wie du die Welt retten kannst? Meinst du nicht, dass du dir und anderen auch einmal etwas Freizeit und Entspannung gönnen könntest? Schau mich an: Ich arbeite gerne und hart, ich würde für mein Land und meine Vision der kommenden Welt jede Mühe auf mich nehmen, trotzdem finde ich unter normalen Umständen genug Zeit, mindestens einmal täglich Sex zu haben. Und der ist meistens nicht nur für mich, sondern auch für die beteiligte Frau genussvoll und entspannend. Ich fühle mich dadurch gestärkt und kann meine täglichen Aufgaben noch energiegeladener vollziehen. Und niemand muss sich sorgen wegen Kindern, verantwortungsvoller Erziehung, zeitraubender Beziehungen und so weiter machen. Entschuldige, der Vorschlag mit der Prostituierten war wirklich etwas unpassend; ich habe diesen Service immer nur in Anspruch genommen, wenn ich etwas unter Zeitdruck war. Für dich dachte ich einfach, dass es dir leichter fällt, wenn du Sex nicht als Ausdruck einer Beziehung praktizierst, die dich vielleicht von Gott oder deiner Kirche trennt, sondern einfach wie eine Massage, eine Turnstunde oder eine medizinische Behandlung. Und für die würdest du ja auch zahlen.“
Aus Leonids Mund klang dieses Angebot alles andere als schmuddelig. Johann wusste zwar, dass er nie darauf eingehen würde, dennoch reizte ihn der unbefangene Zugang des Dolmetschers.
Es klopfte an der Tür. Leonid ging, um sie zu öffnen: „Das werden Aleksandra und Thomas sein.“ Die Genannten traten ein.
Leonid hielt den Kleiderbügel mit dem Talar vor seinen Körper: „Ihr habt gerade die Anprobe verpasst. Trotz des herrlichen Abendessens in der Bar, in der wir uns getroffen haben, passe ich noch in dieses Teil!“
Aleksandra nahm auf einem der Sessel platz und deutete auch den anderen, sich zu setzen. Leonid nahm den zweiten Sessel, Johann und Thomas setzten sich auf das große Bett. Aleksandra begann: „Jetzt wird alles gut werden. Botschafter Yenal ist hier, er kann uns zwar nicht direkt unterstützen, hat mir aber gute Nachrichten aus der Heimat überbracht. Der Putsch ist beendet; und unsere Seite ist bestärkt daraus hervorgegangen. Wir können uns jetzt ganz auf die Befreiung der Gefangenen konzentrieren, denn alles andere wird ein Kinderspiel. Johann und Leonid, ihr werdet morgen zuerst einmal feststellen, wie viele Genossen auf Seiten meines Bruders stehen. Ich werde gleichzeitig mit dem Konsulat hier Kontakt aufnehmen und versuchen, Hilfe aus Moskau anzufordern.“